Berlin Hauptbahnhof. Es ist kurz vor Mitternacht und ich warte auf den Nachtzug, der mich gen Ruhrgebiet bringen soll. Geplante Ankunft: 00:09 Nächster Halt: Bielefeld. Ich überlege mir gerade was das soll, zwischen Herford und Gütersloh auf freiem Feld zu halten, als ich jäh aus meinen Gedanken und dem schelmischen Lächeln gerissen werde. „DING-DONG-DONG Wegen verspäteter Übergabe aus dem Ausland verzögert sich die Ankunft von City Night Line VIER! FÜNF! SECHS! um wenige Minuten!“ Ich denke mir, was soll‘s, von Berlin zum Halt im Nichts sind es immerhin 400 Kilomee….weiter sollte ich nicht kommen, denn die ältere Dame neben mir fängt schon das Zetern und Kläffen an: „Die Deutsche Bahn sollte sich was schämen! Von Organisation haben die ja mal gar keine Ahnung! Man sollte die alle entlassen…“
Alle Leute im Umkreis von zehn Metern schauen sich gegenseitig tief in die Augen und fangen an zu grinsen. Es ist das Übliche. Eine Verspätung von wenigen Minuten und manche Leute regen sich auf, als ob sie in der brandenburgischen Pampa stünden und der letzte Zug in Richtung Großstadt und somit ins Leben fällt ersatzlos aus. ERSATZLOS! Nächster Zug – fünf Stunden später! Kalt ist es und BRANDENBURG!
Aber hier handelt es sich nur um wenige Minuten, eine, zwei, fünf in der Metropole Berlin…nunja, am Ende fahren wir mit fünfzehn Minuten Verspätung in Berlin ab. Bei einem Zug, der aus Prag kommt und nach Amsterdam fährt. Ich muss im Ruhrgebiet raus. Amsterdam wäre auch schön, aber Hamm in Westfalen tut es auch erst einmal.
Der Zug fährt ein und alle sind glücklich. Bis auf die ältere Dame, die sich nun nicht mehr so schön über die Deutsche Bahn aufregen kann und alle Aufmerksamkeit genoss. Jene, die in den Schlagwagen einstieg obwohl sie eine Liege im Liegewagen gebucht hatte. Jene, wegen der drei oder vier Fahrgäste wieder aussteigen mussten, damit jene Dame den richtigen Wagen noch erreicht. Sie haben sich übrigens nicht beschwert, sondern gelächelt. Oder war es eher ein schadenfrohes Grinsen?
Ich weiß es nicht. Ich liege in meiner Koje, schließe die Augen und lasse mich sanft in den Schlaf schaukeln.
Bielefeld, 400 Kilometer weiter im Nichts. Wir sind zehn Minuten zu früh. Ebenso wie in Hamm. Beim Aussteigen überlege ich, ob es der Dame wohl auffallen wird. Ob sie sich (innerlich) bei der Deutschen Bahn bedankt, dass sie zehn Minuten eher am Ziel sein könnte, wenn sie denn in Hamm ausstiege. Zehn Minuten kostbare Lebenszeit. Ich glaube, sie würde es ignorieren. Meine restliche Reise verlief normal.
Normalität ist etwas Schönes auf deutschen Schienen. Schade, dass sie so selten jemand zu schätzen weiß. Beim Beschweren und Nörgeln sind wir Deutschen Weltmeister, insbesondere wenn es gegen die Deutsche Bahn geht. Beim Loben kommen wir nicht über die Regionalliga heraus.
Apropos Regional. Bevor ich mit dem Zug von Berlin aus gefahren bin, bin ich vier Wochen Regionalzug gefahren. Täglich. Und nicht zum Vergnügen. Für eine Studie, welche die Technische Universität Dresden derzeit erstellt, habe ich mich mit einer Menge Fahrgästen unterhalten. Und es waren viele. Nicht nur viele Menschen, sondern auch viele unterschiedliche Charaktere.
Man muss vorausschicken, dass ich mich selbst als sehr kommunikationsfreudigen Menschen sehe und es mir relativ leicht fällt, Menschen anzusprechen. Dies war in diesen modernen Triebwagen nicht immer der Fall.
Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Charaktere und unterschiedliche Identitäten.
Es waren Urlauber, Rentner, Werftarbeiter, Hartz 4-Empfänger, Hausfrauen, Schüler jeglicher Couleur, Polizisten, Arbeitslose, Selbstständige, (pensionierte) Lehrer, Arbeitnehmer und Zahnärzte unter den Befragten. Ein bunter Querschnitt durch unsere Gesellschaft.
Ich möchte jetzt keine Gruppe direkt herausgreifen, aber in jeder von ihnen waren freundliche und nette Menschen sowie das komplette Gegenteil darunter. Leider blieben mir die Unfreundlichen, Sonderbaren und Lustigen mehr in Erinnerung als die Freundlichen. Ich möchte also vorausschicken, dass ich auch viele „normale“ und nette Menschen getroffen habe und nicht nur die folgenden Gruppen:
Fußballfans haben zwei Gesichter. Einmal vor dem Spiel, noch nicht allzu stark alkoholisiert und nach dem Spiel – rotzevoll. Und rotzevolle Hansa Rostock-Fans sind für ihre „Freundlichkeit und Umgänglichkeit“ allseits bekannt und berüchtigt. Sitzt man dann nichtsahnend im Zug und auf einmal werden Fahnen ausgepackt und Hosen heruntergelassen, fragt man sich schon in welchem Film man derzeit ist. Innerlich war man durchaus amüsiert, wenn einer der besagten Fans so betrunken ist, dass er vom Sitz kippt und minutenlang braucht um sich wieder aufzurappeln. Nach außen muss man ernst bleiben, um seine körperliche Unversehrtheit sicherzustellen.
Weitaus friedlicher waren die vielen Urlauber in Nordostvorpommern, sprich Usedom. Auch wenn ich mich ganz herzlich bei den vielen Zahnärzten und pensionierten Beamten bedanken muss, die mir grinsend ihre BahnCard 100 entgegen streckten und darauf bestanden, dass man ihre BahnCard 100 FIRST (!!!)und hier insbesondere das FIRST in einem egionalzug ohne 1. Klasse zur Kenntnis nimmt. Stark in Erinnerung blieb mir auch jene Dame, die sich tierisch über ihre Anfahrt von Karlsruhe in Richtung Berlin aufregte. Der ICE mit dem sie fuhr, musste auf offener Strecke etwa 15 Minuten warten, da ein Signal gestört war. Sie war nur schwer von der Idee abzubringen, dass der ICE bei Tageslicht und freier Sicht das gestörte Signal ja hätte überfahren können und somit keine Verspätung entstünde. Meinen Hinweis, dass Sie sich wahrscheinlich nur sehr begrenzt über einen entgegenkommenden Zug gefreut hätte und dass ein Überfahren eines roten Signales das Leben vieler hunderter Menschen wie auch des in diesem Falle suizidgefährdeten Lokführers gefährden würde, überging sie geflissentlich.
Anzumerken ist, dass besagte Dame trotzdem auf die Minute pünktlich ankam und eigentlich froh sein müsste, 20 Minuten am zugigen Berliner Hauptbahnhof eingespart zu haben. Wieder einmal viel Aufregung um Nichts.
Für große Erheiterung sorgte bei mir auch eine Reisegruppe, die anscheinend sehr sehr sehr sehr selten Zug fuhr. Die eine Dame wunderte sich, dass der Zug, in dem sie und ich mitfuhren lauter war als derjenige, mit dem sie ihren Umsteigebahnhof erreichte. Ich meinte nur, dass Dieseltriebwagen durchaus lauter sein können als E-Lokbespannte Züge, was mit einem erstaunten: „Ach ja, wirklich?“ quittiert wurde. Eine weitere Beschwerde aus dieser Gruppe betraf den angeblich zu kurzen Aufenthalt zur Anschlussgewährung. Auf einer eingleisigen Strecke kann der Zug eben nicht ewig warten, denn irgendwann kommt auch einer entgegen. Dies konnten die Herrschaften glücklicherweise auch so akzeptieren.
Meine Akzeptanz hielt sich allerdings bei jenen Fahrgästen in Grenzen, die mich olfaktorisch einer harten Belastungsprobe unterstellten. Anscheinend hatten jene Auffälligen so viel zu tun, dass es für die tägliche Körperpflege nicht mehr reichte. Um die Intensität des Geruchs zu beschreiben, sollte man sich einfach vorstellen, dass die Klimaanlage 45 Minuten auf voller Leistung gefahren wurde, um den Gestank wieder aus dem Zug zu bekommen und selbigen in eine rollende Kühlkammer zu verwandeln.
Des Weiteren hatte man mit lärmenden und pöbelnden Schülergruppen im besten pubertären Alter, Burschenschaften auf Sauftour und muffigen Dorfbewohnern, die in die Stadt zum Arbeiten fuhren, zu tun.
Ich habe in diesen Wochen sehr großen Respekt und Demut vor Zugbegleitern, Busfahrern, etc. gelernt. Mir hat diese Zeit ehrlicherweise gereicht. Zugbegleiter, Lokführer, Polizisten, Sicherheitspersonal, Servicepersonal, Busfahrer, Stewardessen und viele andere im und außerhalb des Verkehrssektors haben täglich mit nervigen Kunden zu kämpfen. Besonders schlimm wird es, wenn irgendwelche Probleme auftauchen, für die insbesondere der Beschimpfte am wenigsten kann. Ich weiß auch, dass sich viele Zugbegleiter und andere über wachsende Aggression, Beleidigungen und sogar tätlichen Übergriffe Ihnen gegenüber beklagen. So etwas muss nicht sein.
Ich möchte auf diesem Weg einmal allen Menschen, die jeden Tag Menschen von A nach B bringen, danken, dass sie all diese Belastungen auf sich nehmen, sich im wahren Sinne des Wortes den Arsch für den noch so unfreundlichen Kunden aufreißen und trotzdem noch mit einem Lächeln zur Arbeit gehen können (okay, nicht alle, aber die Mehrzahl).
Dafür ein herzliches DANKE!